Kommentar: Von Kinderinnen und Redepulten

Kommentar: Von Kinderinnen und Redepulten
Niedersächsiches Studieninstitut
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Die gendergerechte Sprache ist immer wieder Gegenstand von Diskussionen. Prof. Dr. Tonio Klein stellt seine Sichtweise in einem Kommentar dar.

Die Universität Passau liegt am Nikolaikloster-Innenhof. Späße mit „Nikolaikloster/innenhof“ haben wir schon Anfang der 1990er-Jahre gemacht, in dieser Zeit war ich dort Jurastudent. Oder Studierender? Im Singular natürlich egal – oder nicht? Gegner des Partizip Präsens „Studierende“ führen ins Feld, dass die Form etwas bezeichne, das jemand gerade im Moment tut. Ein Raucher ist kein Rauchender, jedenfalls nicht immer. Gut, aber der oder die Vorsitzende ist auch nicht 24 Stunden am Tag vorsitzend, und „Student“ leitet sich eh schon vom – lateinischen – Partizip Präsens ab. Und das haben wir alles schon in Passau diskutiert. Das Feuer, mit dem das nun wiederaufflammt, verfolge ich mit interessierter Neugier und ohne Abscheureflexe in die eine oder andere Richtung.

Zunächst aber ein paar Betrachtungen aus meiner Fachrichtung, dem Recht. Von – was nicht wertend gemeint ist – Traditionalist/innen wird gelegentlich die Behauptung aufgestellt, das Gendern sei „falsch“. Wäre dies zutreffend, so wäre ein hypothetischer Punktabzug für das fehlende Gendern rechtswidrig. Er wäre vergleichbar mit einer fiktiven Vorgabe eines Professors/einer Professorin, den Buchstaben V nicht zu verwenden und je nach Aussprache durch ein F oder W zu ersetzen. Wer also „Verfassungsrecht – vage oder verbindlich?“ statt „Ferfassungsrecht – wage oder ferbindlich?“ schriebe, bekäme einen Punktabzug. Ich würde es andersherum machen …

Hinkt der Vergleich? Der Grund für die Annahme, das Gendern sei falsch, ist der folgende, dem sich beispielsweise der renommierte Linguist Peter Eisenberg anschließt: Die zuständige Regulierungsinstanz sei der „Rat für deutsche Rechtschreibung“. Was dieser nicht in sein „amtliches Regelwerk“ aufnehme, sei falsch. Richtig ist, dass es sich bei diesem Rat um eine zwischenstaatliche Einrichtung handelt, laut nicht in Zweifel zu ziehender Eigendarstellung: „Der Rat für deutsche Rechtschreibung ist ein zwischenstaatliches Gremium, das von den staatlichen Stellen damit betraut wurde, die Einheitlichkeit der Rechtschreibung im deutschen Sprachraum zu bewahren und die Rechtschreibung auf der Grundlage des orthografischen Regelwerks im unerlässlichen Umfang weiterzuentwickeln.“ Der Rat hat damit eine staatliche Legitimation, die der Duden nicht hat, welcher im Verlag „Bibliographisches Institut“ erscheint, einer GmbH. Wenn der Rat also ein Regelwerk herausgibt, welches sich mit dem Beinamen „amtlich“ schmückt, ist dies kein Etikettenschwindel. Und der Rat hat am 26.3.2021 Folgendes mitgeteilt: „Das Amtliche Regelwerk gilt für Schulen sowie für Verwaltung und Rechtspflege. Der Rat hat (…) die Aufnahme von Asterisk („Gender-Stern“), Unterstrich („Gender-Gap“), Doppelpunkt oder anderen verkürzten Formen zur Kennzeichnung mehrgeschlechtlicher Bezeichnungen im Wortinnern in das Amtliche Regelwerk der deutschen Rechtschreibung zu diesem Zeitpunkt nicht empfohlen.“

So weit so – je nach Sichtweise – gut oder schlecht. Ist aber damit auch die „Exklusivitätsthese“ belegt, also der Schluss „Was im Amtlichen Regelwerk steht, ist richtig – was nicht dort steht, ist falsch“? Dafür scheint zunächst ein Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichts zu sprechen, aus einer Zeit, als es den Rat für Deutsche Rechtschreibung noch gar nicht gab. Bei seiner Entscheidung über die Rechtschreibreform ging es nicht nur um „Majonäse“ und „dass“ statt „daß“, sondern um etwas viel Grundsätzlicheres. Darf der Staat den Bürger/innen überhaupt vorgeben, wie sie zu schreiben haben? Ist das nicht etwas, das staatlicher Regelungsbefugnis gänzlich entzogen ist, weil die Sprache nicht dem Staat, sondern dem Volk gehört? Dieser These hat das Gericht 1998 eine Absage erteilt. Der Umstand, dass die Sprache nicht aus einer staatlichen Quelle fließt, sondern sich im gesellschaftlichen Gebrauch von selbst entwickelt, steht einer staatlichen Regelung nicht entgegen. Wie Jurist/innen sagen, betrifft dies indes nur das „Ob“ einer Regelung, nicht das „Wie“ und nicht das „wie weitgehend“. Vor allem aber ist daraus kein „alles, was der Rat nicht erlaubt, ist verboten“ zu ziehen, denn zwischen dem Gendern und der Rechtschreibreform besteht ein wesentlicher Unterschied. Bei der Rechtschreibreform geht es – nicht immer, aber oft – um ein exklusives Alternativverhältnis: Wenn „dass“ richtig ist, ist „daß“ zwingend falsch. Das eine schließt das andere aus. Wenn der Rat für deutsche Rechtschreibung hingegen sagt, dass „Bürger“ Personen sämtlichen Geschlechts meine, ist „Bürger/innen“ (oder eine andere Form des Genderns) nicht zwingend falsch. Der Rat hat nur die Aufnahme von Gender-Varianten ins Amtliche Regelwerk „nicht empfohlen“, obwohl die gesamte Pressemitteilung (https://www.rechtschreibrat.com/DOX/rfdr_PM_2021-03-26_Geschlechtergerechte_Schreibung.pdf) ein paar bedenkenswerte Argumente gegen das Gendern enthält.

Was vor diesem Hintergrund von Gegner/innen des Genderns vorgebracht wird, ist von einem (G)Eifer, der mir fremd und der auch juristisch sehr fragwürdig ist. Da sieht ein Volljurist (!) als F.A.Z.-Leserbriefschreiber das Gendern als „rechtswidrig“ und gemahnt, soweit es in Behörden gebraucht wird, dienstrechtliche Konsequenzen (und soweit Behörden dafür Geld ausgeben, strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen Untreue). Die Annahme, dass Behörden durch die Arbeit von Gleichstellungsbeauftragten in diesem Bereich, beispielsweise durch die Erstellung von Leitfäden zum Thema, Geld veruntreuen – darauf muss man erst einmal kommen, es ist auch sehr leicht zu widerlegen. "Verboten" ist nur eine Teilmenge von „falsch“, nicht die identische Menge. Sogar, wenn ich die aus genannten Gründen fragwürdige These, Gendern sei „falsch“, probeweise einmal mitgehe: Verboten ist es dadurch noch lange nicht. Auch im Dienst hat der Beamte/die Beamtin Grundrechte, und da darf er oder sie gendern, so wie es beispielsweise auch von der Meinungsfreiheit gedeckt ist, jedweden Unsinn zu behaupten – soweit man nicht die Rechte anderer verletzt. Womit nicht gesagt sei, dass Gendern Unsinn ist. Aber die Behauptung des Verbotenseins ist es. Es ist ja auch nicht verboten, jenseits des Genderns fröhlich nach Gehör zu schreiben, wenngleich es in manchem Bereich Konsequenzen hat, zum Beispiel bei Schulnoten.

Mit diesen Hinweisen ist das Thema aber noch nicht erledigt, denn eine Dienstanweisung, dass die Verwaltung sich einer einheitlichen und korrekten Sprache befleißige, ist so sinnvoll wie legitim wie legal. Fraglich ist nur, wie diese Dienstanweisung aussehen sollte. Eine Anordnung, zu gendern, hat gegenüber derjenigen, es nicht zu tun, den Nachteil, dass das Nicht-Gendern ausdrücklich erlaubt ist, also diese Anordnung zu einer Abweichung von einer korrekten Schreibweise führen würde. Die Anordnung, nicht zu gendern, würde nach hier vertretener Ansicht aber ebenfalls eine von mehreren möglichen Varianten zulässiger Sprache ausschließen. Es ist hier nicht der Raum, den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit auf Herz und Nieren zu überprüfen. Abzuraten ist, Corporate Identity hin oder her, vom einen wie vom anderen, übrigens auch am NSI. Diskussion ja, Empfehlungen ja, Verfügungen nein. Unser viel zu früh verstorbener Kollege Benjamin Lindner hatte mir einmal gesagt, dass das verpflichtende Gendern dem ehrenwerten Anliegen der Gleichberechtigung einen Bärendienst erweise: Wenn es jede/r machen müsse, sehe man nicht mehr, ob er oder sie es auch aus Überzeugung oder mit äußerstem Widerwillen mache. Das überzeugt mich nach wie vor. Also bitte mehr Freiheit – aber auch mehr Toleranz in beide Richtungen. Wenn der gegen das Gendern mächtig Stimmung machende „Verein Deutsche Sprache“ (VDS) Klagen gegen das Gendern im privaten Bereich unterstützt, ist das eine Beschäftigungstherapie für Anwälte und leistet der Überempfindlichkeit wider ein friedliches Miteinander Vorschub. Eine Abmahnung und Unterlassungsklage gegen das von der Führungsspitze angeordnete Gendern bei „Audi“, geführt nicht einmal von einem Mitarbeiter/einer Mitarbeiterin des Hauses, sondern von einer bei VW angestellten Person? Eine rechtlich relevante Belästigung, weil man halt mit Audi korrespondiert? Bitte ganz dringend die Kirche im Dorf lassen!

Wie ist dies nun in den Hochschulen, speziell im Verhältnis zu Studierenden? Auch hier plädiere ich vehement für das Prinzip „Kein Zwang, keine Behinderung“, verlange aber in meinen Bachelor- und Masterarbeiten zwei Dinge: zum einen, dass ein selbst gewähltes System sauber durchgehalten wird, zum anderen, dass wirklich nur gegendert wird, was mit dem Suffix -er als männlich ausgewiesen ist und sich auf Personen statt Gegenstände bezieht. Also gern „Lehrer/innen“, aber weder „Mitglieder/innen“ noch „Datenträger/in“. Grenzfälle verbleiben, so wie überhaupt das Gendern noch in der Entwicklung ist. Tradition sollte kein Argument sein: Bei Vorgaben von Hannovers Ex-Oberbürgermeister Stefan Schostok wurde ausgerechnet über den Vorschlag „Redepult“ am meisten gelästert, obwohl es ja auch ein „Redemanuskript“ gibt und das „Redepult“ weder ein Bandwurmwort noch unverständlich noch schwer aussprechbar ist. Das Wort habe ich sofort übernommen! Mit „Gästin“ tue ich mich noch etwas schwer, indes: Wo ist eigentlich sprachlich der Unterschied zur „Ärztin“? So lange mir das ein Fachmann/eine Fachfrau nicht erklärt, kann ich gegen „Gästin“ kein Argument außer die Abwehr gegen etwas Neues erkennen.

Eine verbindliche Anweisung des Hauses, wie sich das Gendern auf die Leistungsbewertung auswirkt, existiert nicht. Dies sollte auch so bleiben. Den Kolleg/innen würde ich dennoch raten, es nicht verpflichtend zu fordern, weil man damit eben eine korrekte Variante verbietet. Nach dem Rat für deutsche Rechtschreibung (Quelle s. o.) ist fraglich, ob dies noch von der Lehrfreiheit nach Art. 5 III 1 GG gedeckt wäre. Dies zu begutachten, ist hier nicht der Platz. Man sollte einfach auf solche eng geschnürten Korsetts in beide Richtungen verzichten. Glaubt man manchen Presseberichten, sind andere Hochschulen weniger kulant, aber mancher Aufmacher erweist sich als heiße Luft: „Weil sie nicht gendern – Studierende können schlechtere Noten erhalten“ (hier nach https://www.hna.de/kassel/universitaet-kassel-gender-streit-noten-politik-sprache-90265076.html, sinngemäß in zahlreichen anderen Zeitungen). Dies bezieht sich auf einen Fall an der Uni Kassel, in dem der Betroffene auf Anfrage selbst mitgeteilt hat, es sei ihm nur so vorgekommen, dass er deswegen einen Punktabzug bekommen habe. Gefühltes „Gendergaga“ – man kann viel fühlen, wenn der Tag lang ist.

Dennoch: Bewahren wir uns am NSI unsere bislang unaufgeregte Handhabung und schließen uns nicht der Schärfe an, in der die Diskussion von manchen Vertreter/innen beider Seiten geführt wird. Verbindliche Vorgaben zum Gendern sollten wir genauso unterlassen wie Attacken dagegen, die sogar oft noch unseriöser geführt werden. Erinnern Sie sich noch an das Hannoversche Schild „Spielplatz für Kinder und Kinderinnen“? Eine Photoshop-Fälschung, mit der gegen das protestiert werden sollte, was manche „Genderwahn“ nennen. Und das ist nicht lustig, denn es gibt Mitarbeiter/innen der Stadt Hannover, Fachbereich Kinder und Jugend, die eine gewisse Zeit erboste E-Mails und Anrufe entgegennehmen und erklären mussten, dass es sich um eine Fälschung handelte. Mein Mitgefühl gilt diesen Personen. Dass vor kurzem Friedrich Merz die „Kinderinnen“ aufgriff, um Stimmung gegen das Gendern zu machen, ist bezeichnend. Nein, gaga oder ein Wahn ist das Gendern sicherlich nicht. Bleiben wir neugierig, ohne doktrinär zu werden!

Der Kommentar gibt die Meinung des Verfassers wieder. Diese muss nicht der Meinung des NSI/der HSVN entsprechen.

 

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